Die Legende des sanften Weges

Zur Entstehung der Kampfsportarten und insbesondere des Judo-Prinzips „Siegen durch Nachgeben“ gibt es eine kleine Geschichte, die dieses Prinzip anschaulich und amüsant beschreibt:

Vor vielen Jahren lebte in einer Stadt in China ein kleiner Junge mit Namen Wun. Er lebte so, wie es viele andere Kinder auf der Welt auch tun: Er ging in die Schule, er lernte, er machte allerlei Streiche, er spielte – das Leben des Jungen Wun hätte wunderschön sein können, wenn er nicht so klein gewesen wäre. Natürlich hat es manchmal auch Vorteile, ein bisschen kleiner als die anderen zu sein, wenn man durch irgendein Loch schlüpfen kann, wo die anderen längst nicht mehr durchkönnen; unser Wun war auch flinker als die Größeren. Aber er ärgerte sich doch recht oft darüber, dass er bei Raufereien immer den kürzeren zog. In dem Kloster, in dem er von Mönchen im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet wurde, trug man oft auch kleine Kampfspiele aus, und dabei war Wun immer unter den Verlierern. Der Junge Wun hatte schon alles mögliche probiert, um endlich zu wachsen und stärker zu werden: Er hatte die doppelte Portion Reis gegessen, hatte alle möglichen Übungen mitgemacht -es nutzte nichts. Jedermann wird zugeben, dass es auf die Dauer gar keinen Spaß macht, immer der Kleine genannt zu werden.

Eines Tages wurde der Junge Wun auf dem Heimweg von der Klosterschule von einem Sturm überrascht. Solche plötzlichen Stürme gibt es vor allem an der chinesischen Küste immer wieder, man nennt sie Taifun. An diesem Tag wütete der Taifun ganz besonders stark. Der Junge Wun rannte, was er konnte, aber die abgerissenen Äste flogen ihm nur so um die Ohren, Staubwolken wirbelten bis in den dunkelgrauen Himmel. Zwei- oder dreimal krachten ganze Bäume zu Boden, kurz nachdem der Junge Wun gerade vorbeigelaufen war. Eine Weile suchte Wun Schutz unter einem überhängenden Felsen. Er schaute zu, wie starke Bäume einfach entwurzelt wurden, und er sah auch einen schlanken, jungen Baum, der sich unter der Gewalt des Sturmes ganz flach an den Boden presste. Der Junge Wun lief weiter. Er erreichte die Hütte seiner Eltern und verkroch sich dort, bis das Toben des Taifuns endlich nachließ.

Als Wun am nächsten Morgen wieder zur Schule ging, war der Sturm längst vorbei. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, nur die vielen umgestürzten Bäume und herabgerissenen Äste erinnerten noch an den Taifun. Als der Junge Wun an dem Felsen vorbei kam, unter dem er gestern Zuflucht gesucht hatte, sah er zwischen all den entwurzelten Baumriesen jenes schlanke, junge Bäumchen stehen, das sich bei dem gewaltigen Sturm so eng an den Boden gepresst hatte. Es sah zwar auch ein wenig zerzaust aus, aber sonst stand es da heil und gesund – so, als ob es nie den großen Taifun gegeben hätte.

An dieses Bäumchen musste der Junge Wun denken, als die Lehrer das nächste Mal Kampfspiele im Unterricht ansetzten. Wun bekam wieder einen Gegner, der viel größer und stärker war, aber dieses Mal stemmte er sich nicht vergeblich gegen die Kraft des anderen: Als der stärkere Junge überlegen lächelnd den kleinen Wun zu Boden drücken wollte, gab er einfach nach. Der große Junge verlor dadurch das Gleichgewicht, er stürzte durch seine eigene Kraft: Der Junge Wun hatte seinen ersten Kampf gewonnen.

Das ist die Legende über die Entstehung einer Sportart, die sich im Japanischen aus den Worten ju (sanftes Nachgeben) und do (Weg) zusammensetzt. Judo – der sanfte Weg zum Erfolg.

(Quelle: Judo für Jugendliche, Paul Barth u. Ulrich Kaiser, 1978)

links: das japanische Schriftzeichen für Judo